A hora da estrela von Clarice Lispector
A hora da estrela (Der große Augenblick), das Manuskript Clarice Lispectors
Wir freuen uns sehr, Ihnen zur Einweihung unserer Reihe von Manuskripten in portugiesischer Sprache eine Ausgabe von A hora da estrela präsentieren zu können. Es handelt sich um den letzten veröffentlichten Roman von Clarice Lispector (1977) und wird als eines ihrer wesentlichsten Werke betrachtet.
Clarice Lispector, Romanschriftstellerin, polyglotte Journalistin und Galionsfigur der brasilianischen Literatur, wurde von ihrem Biografen Benjamin Moser als „die bedeutendste jüdische Schriftstellerin seit Kafka“ beschrieben. Ihr Stil besaß eine unvergleichliche Fähigkeit: Sie erweckte den Leser zu ihm selbst. Dies lässt sich nun anhand des Manuskripts von A hora da estrela betrachten. In dieser Box in Großformat wurde das Manuskript in einer grafisch restaurierten Version des Originals reproduziert, welche die Korrekturen, Änderungen und Anmerkungen dokumentieren, die an der Ausarbeitung der Endversion beteiligt waren, so als hätte die Autorin gerade ihren Stift beiseitegelegt. Das Originaldokument wird von ihrer Familie im Institut Moreira Salles in Rio de Janeiro aufbewahrt.
Der Roman wurde 1977 – Todesjahr Clarices – veröffentlicht und ist eng mit ihrem Lebensanfang verknüpft; ihr eigener geografischer und kultureller Lebenslauf erinnert an den Macabéas. Diese „Sternstunde“ ist ein gewaltiges Symbol: So wie der Tod ihrer Heldin – es wird ihr von einer Hellseherin eine blühende Zukunft prophezeit, kurz bevor sie ein Auto überfährt – ist auch einer der größten Erfolge Clarice Lispectors von Unsterblichkeit geprägt.
Clarice Lispector an der Arbeit
Leben und Werk Clarice Lispectors sind untrennbar, was sich auch in ihrem Manuskript widerspiegelt. Im Alter von 56 Jahren, und nach mehreren von Lesern sowie Kritikern gepriesenen Veröffentlichungen, beginnt sie in ihrer Wohnung 88 rua Sampaio in Rio de Janeiro einen Roman zu verfassen, dem sie im Ganzen 13 Titel gibt, der aber unter dem Namen A hora da estrela veröffentlicht wird.
Die sehr eigenartige Methode der Autorin offenbart sich in dem Manuskript: Einerseits, die eigentliche Ausfertigung, ununterbrochen auf oft von Hand nummerierten Seiten; andererseits, die unmittelbare Schrift in Form von verstreuten Notizen und Fragmenten auf Papier aller Art, etwa gebrauchte Umschläge, Visitenkarten, abgerissene Fetzen, Terminerinnerungen, usw. Denn die Inspiration erfasst Clarice zu jeder Tageszeit. Diese Quasi-Gleichzeitigkeit zwischen Aufzeichnungen und anderen alltäglichen Aktivitäten erläutert die grafischen Schwankungen des Manuskripts. So kann man sich vorstellen, wie sie an ihrem Schreibtisch oder bei anderen Beschäftigungen, im Vorbeigehen oder zwischen zwei Terminen, die aus ihrer Fantasie quellenden Sätze zu Papier bringt und so das laufende Werk vervollständigt.
In dem Manuskript kann man auch die Ausfertigung und Verbesserung des Textes verfolgen: Das Tempo der Gestaltung auf den handgeschriebenen Seiten ist in den durchgestrichenen Auszügen, den zugesetzten Wörtern und den unausgereiften Sätzen deutlich erkennbar. Diese lassen dann eine feingeschliffene Endfassung zustande kommen, wie sie Clarice Lispector erzählen wollte. Tatsächlich zeigt der Vergleich zwischen der veröffentlichten Version und dem vorliegenden Text einige wesentliche Unterschiede auf: Die endgültige Erzählung ist so konstruiert und geändert, dass die äußerlich farblose und unscheinbare, aber letztendlich tiefsinnige Figur Macabéas sich entfaltet und zugleich klar abzeichnet.
Tão jovem e já com ferrugem.
„So jung und doch schon so eingerostet.“
Zudem hat dieses ursprüngliche Manuskript spätere Änderungen erfahren, die nicht sichtbar sind, und unterscheidet sich erheblich von dem vom Rocco-Verlag veröffentlichten Roman, der von der Autorin definitiv auf den grafischen Druckfahnen revidiert wurde.
Ein lebendes Manuskript, das merkwürdige und manchmal persönliche Elemente aufweist
Vorhergehende Versionen, durchgestrichene Abschnitte, hinzugefügte Wörter – das Manuskript von A hora de estrela ist ein lebendes Dokument, in welchem man den Roman von Clarice Lispector im Wandel lesen kann wie eine Fotografie seiner Ausarbeitung.
Da findet man verschiedene Fassungen von mehreren Schlüsselpassagen des Textes. So gibt es zwei Versionen der Schlussszene – Macabéas Tod, ihre „Sternstunde“ – und man sieht, wie sie sich zu der veröffentlichten Version zusammenfügen. Dasselbe gilt für den Beginn des Textes, der anfänglich kurzgefasst, dann auf mehreren anderen Seiten aber ergänzt wurde, bis er der Endfassung nah kommt. Clarice Lispector sagte selbst, dass sie schriebe, als „nähte sie nach innen hinein“. So, wie ihre Sätze Spiralen von außen nach innen formen, erscheint diese Kreisförmigkeit auch grafisch auf mehreren Seiten des Manuskripts.
Unter den Skizzen und Erstversionen entdeckt man auch einige merkwürdige Elemente: Die Entwürfe der dreizehn Titel des Romans; Spuren der Identifikation der Autorin mit ihrem Erzähler, sichtbar in den Genus Fehlern, wenn sie ihn im Femininum bezeichnet; einige Fragmente, die von dem Eigenleben der Autorin zeugen, wie Termine oder die Adresse ihrer letzten Wohnung in Rio, wo sie bis zu ihrem Tod im Dezember 1977 lebte; und sogar Spuren von Lippenstift.
Ein literarischer Erfolg
Der Roman ist die Geschichte von Macabéa, einer jungen Frau, die der Armut ihres heimatlichen Alagoas entflieht, um in Rio de Janeiro als Schreibkraft zu arbeiten. Ein fiktiver Erzähler, Rodrigo S. M., beschreibt ihr eingeschränktes Leben ohne Liebe und versucht verzweifelt, die Geheimnisse dieser ungewöhnlichen Antiheldin, die keinen Platz in der Gesellschaft findet, zu enthüllen.
Mehr als in ihren anderen Werken wählt Clarice hier eine sehr persönliche, aber auch von einer sozialen Dimension durchdrungene Schreibweise. So ist in A hora da estrela die Rede von „der Konfrontation zwischen […] dem modernen brasilianischen Autor und dem Elend der brasilianischen Bevölkerung“*, was zu einem linguistischen Konflikt führt: Wie ist es möglich, von diesem physischen, emotionalen und materiellen Elend zu erzählen, ohne es zu verfälschen? Um dies zu erforschen, entscheidet die Schriftstellerin, ein soziales Panorama zu beschreiben, das über zwei verschiedene Wege hergeleitet wird: Die menschliche Isolation, dargestellt durch Macabéa, eine Heldin im Gegensinn, die in der modernen Gesellschaft nichts vollbringen kann; und die Schwierigkeit der Schilderung von Rodrigo S.M., begrenzt durch die Machtlosigkeit der Sprache.
„Ich schreibe immer mittelmäßiger. […] Natürlich ist da die Versuchung, schöne Worte zu schaffen: Ich kenne prächtige Adjektive, üppige Nomen und schlanke Verben, die eindeutig in der Luft wirken. Würde ich aber das Brot dieses Mädchens in Gold verwandeln – sie könnte nicht hineinbeißen und wäre noch hungriger.“**
So wundert man sich also nicht, dass der Tod Macabéas der Höhepunkt der Geschichte ist. In diesem einzigen Moment strahlt und pulsiert sie. Ihr Tod ist ihre Wiedergeburt.
A morte é o encontro consigo.
„Der Tod ist die Begegnung mit sich selbst.“
Durch einen Verflechtungsprozess wird die Erfahrung Rodrigos zur Spieglung des Lebens Macabéas. So wie die junge Frau ist auch der Autor ein Außenseiter, verachtet von einer Gesellschaft, die er nur zu gut durchschaut. Er spricht von seiner Protagonistin, fängt an, wie sie zu leben, verwandelt sich, verliebt sich und stirbt mit ihr, denn der Tod der Figur ist die Befreiung des Erzählers. Doch über die Linien und das Manuskript hinaus zeichnet sich eine dritte Interpretationsebene ab, die durch Clarice Lispector verkörpert wird: Die Fragestellungen des Erzählers sind in der Tat die der Autorin.
A hora da estrela ist nicht nur der meistübersetzte Roman von Clarice Lispector, er wurde auch 1985 unter der Regie von Susana Amaral verfilmt und erhielt nationale und internationale Auszeichnungen.
*Clarisse Fukelman, « Escrever estrelas (ora, direis) », in: Clarice Lispector, A hora da estrela, Rio de Janeiro, Francisco Alves, 1997, S. 4. Freie Übersetzung.
**Freie Übersetzung.
Luxusausgabe
Diese karminrote Ausgabe ist von 1 bis 1000 nummeriert und wird in einem handgefertigten Schuber präsentiert.
Auf umweltfreundlichem Papier und mit pflanzlicher Tinte gedruckt, mit den feinsten Stoffen gebunden.